Predigt im Ökumenischen Gottesdienst zum Abschluss des „Marsch für das Leben“ am 19. September 2020, vor dem Brandenburger Tor

Erzbischof Dr. Heiner Koch

Am 18. März 2020 verlässt ein Konvoi von 30 Militärlastwagen die Stadt Bergamo. Weil wegen der Pandemie der städtische Friedhof überlastet ist, müssen die Verstorbenen zum Einäschern in die Nachbarregion gebracht werden. Danach wiederholten sich derartige Bilder weltweit. Unfassbar, dass im April in New York viele Verstorbene ohne Sarg und nur im Leichensack, per Gabelstapler in Kühllaster verladen wurden wie Massentransportgut. Diese Bilder lösten in vielen, die sie sahen, die Frage aus: Was ist der Mensch, was ist eigentlich seine Größe, seine Würde, was ist sein Leben? Die Frage nach dem Leben, nach dem Lebenswerten, dem Lebensrecht und dem Lebensschutz bestimmt seitdem in vielen Bereichen die persönlichen und die gesellschaftlichen Diskussionen in diesem Jahr 2020, in dem vor 30 Jahren Deutschland wiedervereint wurde: Die Frage nach dem Schutz des ungeborenen Lebens und den Möglichkeiten der Manipulation des menschlichen Erbgutes, die Frage nach Freiheit und Lebensschutz, die Frage nach der Zerstörung der menschlichen Umwelt, die Frage nach Flucht und Migration, die Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens in den furchtbaren Katastrophen dieses Jahres, die Frage nach Leid und Sterben und Menschenwürde. Das Jahr 30 nach der Wiedervereinigung Deutschlands ist zu einem Jahr der Frage nach dem Leben und dem Schutz des Lebens des Menschen geworden.

107 Milliarden Menschen haben bisher auf der Erde gelebt, so sagen die Wissenschaftler. Aber jeder unter diesen Menschen ist ganz einmalig in seiner Geschichte, in seinem Körper, in seinem Geist, in seinen Eltern, in den Menschen, mit denen er zusammenlebt, im Glück, das ihm wiederfährt, in den Chancen, die ihm gegeben wurden, in seinem Leid und in seiner Krankheit. Jeder Mensch ist groß, denn jeder Mensch ist einmalig. Diese Einmaligkeit macht seine Würde aus: Du bist einmalig begabt.

Du bist aber auch einmalig beauftragt. Kein Mensch hatte vor Dir die Aufgaben, die sich in Deinem Leben Dir stellen. Mag sein, dass andere Menschen sich ähnlichen Herausforderungen ausgesetzt sehen, aber es waren höchstens ähnliche. Nur Du, Mensch, kannst sie mit Deinen Möglichkeiten und Fähigkeiten auf Deine Weise meistern. Das macht Deine Größe aus. Du bist einmalig beauftragt.

Als Christen glauben wir, dass diese Größe des Menschen in seiner Begabung und in seiner Beauftragung gründet, in der Begnadigung durch Gott: Gottes Gnade lässt Dich leben. Gottes Gnade stärkt Dich. Gottes Gnade hält Dich im Leben und im Sterben: Du bist und bleibst deshalb einmalig und groß, immer und ewig.

Deshalb kämpfen wir als Menschen und als Christen für die Würde und Größe des Menschen und für sein Lebensrecht in jedem seiner Lebensaugenblicke: Wir kämpfen für das Lebensrecht des ungeborenen Kindes genauso wie für das Lebensrecht dessen, der in den Augen der Gesellschaft gering geachtet wird. Wir kämpfen für die Lebenswürde des Migranten und Flüchtlings genauso wie für die des Kranken, des Leidenden und des Sterbenden. Deshalb schützt unser Grundgesetz jeden Menschen in all seinen Lebensphasen, auch das ungeboren Kind ausdrücklich und nachdrücklich. Auch dieses Grundgesetz ruft uns zum Schutz des Lebens in die Verantwortung. Wenn wir Grenzen des Lebensrechtes setzen würden, dann würden wir diese auch uns selbst setzen und unsere Größe und Einmaligkeit, ja unser ganzes Leben als Mensch zerstören. Wenn wir Menschen anderen Menschen helfen zu leben, helfen wir uns zu leben. Lebensschutz des anderen ist immer auch Schutz des eigenen Lebens. Nicht nur heute rufen wir uns und allen Menschen deshalb in Erinnerung: Mensch, vergiss Deine Größe und Würde nie, vergiss sie nicht und fördere die Größe eines jeden Menschen in jeder seiner Lebensphasen. Mensch, Du und Dein Mitmensch, Ihr seid groß und Ihr bleibt groß über den Tod hinaus.

 

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